Ausstellung Modulor: 27.4.-31.08.2023 / Ein Beitrag in der Reihe artothek berlin – Dialoge 2023
„Der Mensch sieht die Dinge der Architektur mit seinen Augen, die 1,70 Meter über dem Boden sind.“ (1) Aus dieser Erste-Person-Perspektive entwickelte der Architekt Charles-Édouard Jeanneret-Gris, der sich selbst Le Corbusier nannte, das aus einem anthropologischen Modell abgeleitete Maßsystem „Modulor“. Besitzen aber seine Prinzipien in der heutigen Erkenntnis- und Wahrnehmungswelt weiterhin ihre Gültigkeit? Im Rahmen eines Kooperationsprojektes der artothek berlin und der Architektur- und Kunstgalerie treppe b unternimmt Carlos Silva mit den Mitteln der Malerei in der Ausstellung „Modulor“ eine Dekonstruktion des Maß-Reglers und stellt seine Proportionsvorstellungen sowie den Subjektivismus seiner Architekturprinzipien in Frage. Silva setzt dies an einem Ort um, der zum Schauplatz eines Streits zwischen dem Schöpferischen und dem Angewandten geworden ist: das Corbusierhaus Typ Berlin.
Carlos Silva, 1971 geboren in Cali (Kolumbien), studierte an der Pontificia Universidad Javeriana in Bogotá, einer der ältesten Universitäten Südamerikas, Architektur und an der Universidad de los Andes Kunst. Nach einem Jahr Aufenthalt in Spanien zog er 1999 nach Berlin und machte die Stadt, ihre Strukturen, Geschichte und Widersprüche zum Thema seiner abstrakt-konkreten Malerei. Beeinflusst von den Formen und Bauwerken des Architekturlabors Bogotá und der dynamischen, raumbezogenen Malerei des Neoconcretismo entwickelte Silva seinen malerischen Ausdruck. In Überlagerungen von Flächen und Linien, von Opakem und Transparentem, dem Zusammenspiel von Farben und Formen erweitert und variiert er eine Ordnung, die seiner Malerei zugrunde liegt. Entlang an Schablonen, Winkeln, Zirkeln und Führungsschienen bewegt Silva Pinsel und Spachtel, die mit Farbe Spuren auf dem Malgrund erzeugen. Seine Malerei auf Leinwand, Wänden oder Papier erschließt das lebendige Verhältnis von Lenkung und Zufall.
Le Corbusier bezeichnete seinen „Modulor“ als ein Hilfsmittel und kein Rezept, mit dem „das Joch der unversöhnlichen Genauigkeit“ (2) geometrischer Messung im Entwurfsprozess überwundern werden soll. Basierend auf dem Goldenen Schnitt verbindet der Maß-Regler den antiken homo vitruvianus mit der organischen Vagheit der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen. Le Corbusier ging von einer aufrechten – und offensichtlich männlichen – Figur mit einer Scheitelhöhe von 182,88 cm (gerundet 183 cm) aus, was sechs englischen Fuß entspricht, und einem Fixpunkt 113 cm über dem Boden, dem fiktiven Nabel. Von dort gehen nach dem Prinzip der Fibonacci-Sequenz zwei Messreihen aus, die rote und die blaue Reihe, mit denen jedes Proportionsverhältnis errechnet werden kann. Doch gab es schon unter seinen Zeitgenoss*innen berechtigte Zweifel an der Idealgestalt.
Wie der Philosoph Maurice Merleau-Ponty darlegte, genüge es nicht, die Augen zu öffnen. Der Zugang zur Wahrnehmungswelt müsse erst freigelegt werden. Die klassischen Denkfiguren verstand er als anschauungslose Konstruktionen: Objektivität und damit die Vorstellung einer*eines absoluten Beobachter*in wären nach Merleau-Ponty ein bloßer Traum, aus dem die Moderne erwacht sei. Die Kritik des surrealistischen Malers Roberto Matta, der in Chile Architektur studierte und einige Zeit mit Le Corbusier arbeitete, warf den Architekten auch ein mangelndes Interesse an den Menschen vor, die in seinen Gebäuden leben. Für Matta war der „Modulor“ die Verkörperung eines abstrakten Subjekts, das sich der produktivistischen Gesellschaft in einer architektonischen Biegemaschine anzupassen habe.
Auf konkrete Weise spiegelt sich diese Kritik in dem Körper und der Geschichte jenes Gebäudes wider, zu dem Carlos Silva seine Malerei in Beziehung setzt. Auf einem Hügel in Berlin-Charlottenburg, neben dem Olympiastation, realisierte Le Corbusier ein Wohngebäude zur Bauausstellung Interbau 1957 nach dem Prinzip der Unité d’Habitation, das er erst selbst und dann später seine Kritiker*innen als „Wohnmaschine“ bezeichneten. Basierend auf dem „Modulor“ sollte es seinen Proportionsprinzipen und Gebäudeorganisation entsprechen – scheiterte aber an den baupolizeilichen Vorschriften. Nicht 2,26 m lichte Raumhöhe, sondern 2,50 m sollten den Bewohner*innen zugestanden werden. Der Architekt kämpfte um seine Unité und musste sie an die Berliner Maßgaben anpassen. Frustriert entgegnete er dem Bauherrn in einem Brief: „Ich möchte nicht die Mühe eines ganzen Lebens durch einen Misserfolg auf dem Olympiahügel in Berlin kompromittieren.“ (3)
Den „Modulor“ nimmt Silva zum Ausgangspunkt für eine Wandmalerei im Raum 1061 des Gebäudes – dem Ausstellungsraum der treppe b. Die roten und blauen Maße fügt er an den Wänden zu einem Raster in den Raum mit T-förmigem Grundriss. Ein Wandspiegel sorgt für optische Erweiterung. An einer Wand umschwingt der Maler mit konzentrischen Kreisen die Schnittpunkte, die das „Spiel der Füllungen“ dynamisiert. Silva lotet die Möglichkeiten für das Runde, das Dynamische, das Zufällige in dem auf eckige Formen und Körper konzentrierten System aus. Und so fragt er nach Individualität, Diversität, Abweichung, nach dem Platz für das Schiefe, Krumme und Zufällige im Regelwerk eines Ideals. Der Künstler bringt sich selbst als echten Menschen mit eigenen Vorstellungen, Augenhöhe und körperlicher Organisation in das Rasterschema ein, der durch die Pinselschwünge wie ein malerisches Nachbild sichtbar bleibt. In diesem Freilegungsprozess der Formpotentiale ist es möglich, auch einen neuen, versöhnlichen Blick auf Le Corbusiers Proportionsverhältnisse zu gewinnen. Denn letztlich machen die Inhalte den Raum.
(1) Vgl. Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur (1922) (=Bauwelt Fundamente 2, Originalausgabe 1963, Nachdruck), Braunschweig 1982, S. 23.
(2) Le Corbusier: Der Modulor. Darstellung eines in Architektur und Technik allgemeinen anwendbaren harmonischen Maszes im menschlichen Maszstab [Faksimile-Wiedergabe der 2. Auflage 1956], Stuttgart 1995, S. 77.
(3) Zit. nach: Le Corbusier an Frithjof Müller-Reppen, Paris 18.04.1957 [Übersetzung], in: Le Corbusier und die Unité d’Habitation, Typ Berlin. Briefwechsel 1955–1958, Berlin 2021, S. 57.
Bilder © Carlos Silva
Ulrike Pennewitz (M.A. phil, MA LIS) ist Kunst- und Informationswissenschaftlerin, lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen und Kuratorin von Ausstellungen zur Klassischen Moderne, Bauhaus-Moderne, West-Berliner Kunstszene, Kunst in der DDR, zeitgenössische Kunst und Künstlerbüchern sowie Autorin von Werkverzeichnissen und digitalen Ressourcen. www.ulrike-pennewitz.de
Ausstellung Modulor / Carlos Silva 27.04.2023 – 31.08.2023 Mehr Informationen: https://treppe-b.de/