La Ruche / Sherko Fatah
Die meisten Kunstinteressierten werden vom Aufstieg der modernen Kunst als der sogenannten „Schule von Paris“ am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine eher romantische Vorstellung haben. Hier denkt man etwa an Chagalls Gemälde „Paris durch das Fenster“ von 1913 oder an seine Darstellungen von sich selbst und seiner ersten Frau Bella, eng umschlungen, schwebend über der Seine. Oder an die Geschichten über Amadeo Modigliani und seine Freunde auf schier endlosen Streifzügen durch die Bars des Montparnasse, zu denen er, der seit seiner Jugend an Tuberkulose litt, trotz künstlerischer Arbeit und zahlloser Liebschaften tatsächlich noch die Kraft fand (zumindest bis zu seinem sechsunddreißigsten Lebensjahr). So kann die Verklärung, welche jene Epoche in Paris durch das Kunstpublikum erfahren hat, kaum verwundern. Denn wilde Künstlerleben in unruhigen Zeiten, eine Unzahl von biografischen Anekdoten und schnelle, heftige Umbrüche in den Kunststilen jener Epoche, verbunden mit dem Auf- und Abstieg nicht nur von Künstlern sondern auch von Galeristen und Sammlern, das sind die Zutaten, welche das vorherrschende, ohnehin eher biografisch-anekdotische Kunstverständnis braucht, um seine Mythen zu begründen und die Museumsshops zu bestücken.
Der amerikanische Journalist und Publizist Stanley Meisler geht in seinem hervorragenden Buch „Shocking Paris. Soutine, Chagall and the outsiders of Montparnasse“ (New York City, 2015) keinen grundsätzlich anderen Weg. Wenngleich er also den Lebensspuren einiger der Künstler jener Zeit folgt, so führt er diese Darstellung jedoch eher skizzenhaft aus. Das fällt ihm umso leichter, als es über seinen Protagonisten, den Maler Chaim Soutine, ohnehin nur recht wenig Biografisches zu berichten gibt und dieses Wenige in den Jahrzehnten nach dessen Tod längst ausgebreitet wurde. An den überlieferten Lebensfakten dieses Künstlers entlang aber findet Stanley Meisler auf elegante Weise zu seinem eigentlichen, allgemeineren und auch heute noch aktuellen Thema: Die „Schule von Paris“ nicht nur als ein Brennpunkt der frühen Moderne, sondern auch als Objekt von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.
Alles beginnt in der La Ruche, Bienenkorb, genannten Künstlerkolonie im 15. Arrondissement von Paris. Diese Einrichtung, im Grunde ein frühes soziales Projekt für mittellose Künstler, bot kleine, aber durch viele Fenster recht gut beleuchtete Ateliers, was baulich ermöglicht wurde durch ihre charakteristische vieleckige Form. Es scheint fast wie ein Omen, dass dieses Gebäude errichtet wurde aus den Überbleibseln der Pariser Weltausstellung von 1900, eines Spektakels also, welches die Größe und Fortschrittlichkeit Frankreichs demonstrieren sollte. Früh im zwanzigsten Jahrhundert sammelten sich genau dort Künstler aus vieler Herren Länder, eine besondere Gruppe aber stellten die dem krisengeschüttelten Russischen Reich entronnenen oder aus anderen Teilen Europas zugewanderten Juden dar. Besonders deshalb, weil viele von jenen, die dort lebten oder ein- und ausgingen, es in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg fertigbrachten, sich im Pariser Kunstbetrieb zu etablieren. Pinchus Krémègne, Jacques Lipchitz, Moïse Kisling, Ossip Zadkine, Morice Lipsi, Michel Kikoïne, um nur einige zu nennen, erlangten Anerkennung, und einige Bekanntheit, Modigliani, Chagall und Soutine kamen zu Weltruhm.
So weit, so gut und erfreulich, könnte man sagen, hätte sich dieser Aufstieg nicht vor den Augen einer seit der Dreyfus-Affäre zunächst zurückhaltenden, in den Jahren zwischen den Weltkriegen aber immer vernehmlicher sich äußernden, nationalistisch-konservativen Öffentlichkeit vollzogen. Zunächst ging es in Feuilletons und Büchern um die Frage, wie es denn möglich sein kann, dass die große, einzigartige französische Kunsttradition, welche im neunzehnten Jahrhundert im Impressionismus gipfelte, nun beerbt wurde von mittellosen Herumtreibern, Landstreichern und Säufern, die von sonstwoher nach Paris strömten, tief hinein in jene reine, schützenswerte französische Kulturblüte, welche sie nicht nur beschmutzten, sondern ganz sicher verdorren lassen würden. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Tatsache, dass es sich bei vielen dieser „Landstreicher“ um Juden handelte, mehr Raum gewann. Die Frage wurde erörtert, wie ein Salon französische Kunst in Zukunft auszustellen in der Lage sein soll, wenn ein großer Teil der gezeigten Werke von gerade erst nach Frankreich eingewanderten Migranten stammte, die zudem in nicht geringer Zahl auch noch Juden waren.
Man kann sich leicht vorstellen, wie unaufhaltsam dieser Polemik die Zerstörung der „Schule von Paris“ in der Realität folgte, als die Deutschen Frankreich besetzten. Zwar gelang es einigen der Künstler im für einige Zeit noch unbesetzten Vichy-Frankreich unterzutauchen, für jene allerdings, die in Paris blieben, bedeutete die Zeit der Besatzung ein Leben in ständiger Angst.
Nach der Befreiung Frankreichs war die „Schule von Paris“ Geschichte. Paris verlor in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Rang als Welthauptstadt der Kunst an New York und neue Generationen von Künstlerinnen und Künstlern nahmen die Arbeit auf.
Es scheint wie eine Ironie der Geschichte, dass ein paar ausgerechnet jener Künstler, welche, wie ein Kritiker damals schrieb, für eine „Atmosphäre von Rechtschaffenheit und Eleganz“ standen, die nach der Vertreibung der Juden und sonstiger Ausländer in die französischen Salons eingekehrt war, während der Besatzungszeit zu einer Art Kulturreise nach Nazideutschland eingeladen wurden, gut versorgt und inklusive Besuchen in den Ateliers von Albert Speer und Arno Breker. André Derain, Maurice de Vlaminck und Paul Belmondo (Bildhauer und der Vater des Schauspielers), welche diese Reise 1941 unternahmen, fügten der, wenn es so etwas gibt, Größe Frankreichs rückblickend weitaus mehr Schaden zu als das bunte Völkchen aus dem Bienenkorb.
© Sherko Fatah
Sherko Fatah ist Schriftsteller, und studierte Kunstgeschichte und Philosophie. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Großen Kunstpreis Berlin und den Adelbert-von-Chamisso-Preis.