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Artist Talk
NĂ€chster Termin 18.11. mit Markus Willeke

BeitrÀge von Susanne Gupta

Ausstellung Modulor: 27.4.-31.08.2023 / Ein Beitrag in der Reihe artothek berlin – Dialoge 2023

„Der Mensch sieht die Dinge der Architektur mit seinen Augen, die 1,70 Meter über dem Boden sind.“ (1) Aus dieser Erste-Person-Perspektive entwickelte der Architekt Charles-Édouard Jeanneret-Gris, der sich selbst Le Corbusier nannte, das aus einem anthropologischen Modell abgeleitete Maßsystem „Modulor“. Besitzen aber seine Prinzipien in der heutigen Erkenntnis- und Wahrnehmungswelt weiterhin ihre GĂŒltigkeit? Im Rahmen eines Kooperationsprojektes der artothek berlin und der Architektur- und Kunstgalerie treppe b unternimmt Carlos Silva mit den Mitteln der Malerei in der Ausstellung „Modulor“ eine Dekonstruktion des Maß-Reglers und stellt seine Proportionsvorstellungen sowie den Subjektivismus seiner Architekturprinzipien in Frage. Silva setzt dies an einem Ort um, der zum Schauplatz eines Streits zwischen dem Schöpferischen und dem Angewandten geworden ist: das Corbusierhaus Typ Berlin.

Carlos Silva, 1971 geboren in Cali (Kolumbien), studierte an der Pontificia Universidad Javeriana in BogotĂĄ, einer der Ă€ltesten UniversitĂ€ten SĂŒdamerikas, Architektur und an der Universidad de los Andes Kunst. Nach einem Jahr Aufenthalt in Spanien zog er 1999 nach Berlin und machte die Stadt, ihre Strukturen, Geschichte und WidersprĂŒche zum Thema seiner abstrakt-konkreten Malerei. Beeinflusst von den Formen und Bauwerken des Architekturlabors BogotĂĄ und der dynamischen, raumbezogenen Malerei des Neoconcretismo entwickelte Silva seinen malerischen Ausdruck. In Überlagerungen von FlĂ€chen und Linien, von Opakem und Transparentem, dem Zusammenspiel von Farben und Formen erweitert und variiert er eine Ordnung, die seiner Malerei zugrunde liegt. Entlang an Schablonen, Winkeln, Zirkeln und FĂŒhrungsschienen bewegt Silva Pinsel und Spachtel, die mit Farbe Spuren auf dem Malgrund erzeugen. Seine Malerei auf Leinwand, WĂ€nden oder Papier erschließt das lebendige VerhĂ€ltnis von Lenkung und Zufall.

Le Corbusier bezeichnete seinen „Modulor“ als ein Hilfsmittel und kein Rezept, mit dem „das Joch der unversöhnlichen Genauigkeit“ (2) geometrischer Messung im Entwurfsprozess ĂŒberwundern werden soll. Basierend auf dem Goldenen Schnitt verbindet der Maß-Regler den antiken homo vitruvianus mit der organischen Vagheit der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen. Le Corbusier ging von einer aufrechten – und offensichtlich mĂ€nnlichen – Figur mit einer Scheitelhöhe von 182,88 cm (gerundet 183 cm) aus, was sechs englischen Fuß entspricht, und einem Fixpunkt 113 cm ĂŒber dem Boden, dem fiktiven Nabel. Von dort gehen nach dem Prinzip der Fibonacci-Sequenz zwei Messreihen aus, die rote und die blaue Reihe, mit denen jedes ProportionsverhĂ€ltnis errechnet werden kann. Doch gab es schon unter seinen Zeitgenoss*innen berechtigte Zweifel an der Idealgestalt.

Wie der Philosoph Maurice Merleau-Ponty darlegte, genĂŒge es nicht, die Augen zu öffnen. Der Zugang zur Wahrnehmungswelt mĂŒsse erst freigelegt werden. Die klassischen Denkfiguren verstand er als anschauungslose Konstruktionen: ObjektivitĂ€t und damit die Vorstellung einer*eines absoluten Beobachter*in wĂ€ren nach Merleau-Ponty ein bloßer Traum, aus dem die Moderne erwacht sei. Die Kritik des surrealistischen Malers Roberto Matta, der in Chile Architektur studierte und einige Zeit mit Le Corbusier arbeitete, warf den Architekten auch ein mangelndes Interesse an den Menschen vor, die in seinen GebĂ€uden leben. FĂŒr Matta war der „Modulor“ die Verkörperung eines abstrakten Subjekts, das sich der produktivistischen Gesellschaft in einer architektonischen Biegemaschine anzupassen habe.

Auf konkrete Weise spiegelt sich diese Kritik in dem Körper und der Geschichte jenes GebĂ€udes wider, zu dem Carlos Silva seine Malerei in Beziehung setzt. Auf einem HĂŒgel in Berlin-Charlottenburg, neben dem Olympiastation, realisierte Le Corbusier ein WohngebĂ€ude zur Bauausstellung Interbau 1957 nach dem Prinzip der UnitĂ© d’Habitation, das er erst selbst und dann spĂ€ter seine Kritiker*innen als „Wohnmaschine“ bezeichneten. Basierend auf dem „Modulor“ sollte es seinen Proportionsprinzipen und GebĂ€udeorganisation entsprechen – scheiterte aber an den baupolizeilichen Vorschriften. Nicht 2,26 m lichte Raumhöhe, sondern 2,50 m sollten den Bewohner*innen zugestanden werden. Der Architekt kĂ€mpfte um seine UnitĂ© und musste sie an die Berliner Maßgaben anpassen. Frustriert entgegnete er dem Bauherrn in einem Brief: „Ich möchte nicht die MĂŒhe eines ganzen Lebens durch einen Misserfolg auf dem OlympiahĂŒgel in Berlin kompromittieren.“ (3)

Den „Modulor“ nimmt Silva zum Ausgangspunkt fĂŒr eine Wandmalerei im Raum 1061 des GebĂ€udes – dem Ausstellungsraum der treppe b. Die roten und blauen Maße fĂŒgt er an den WĂ€nden zu einem Raster in den Raum mit T-förmigem Grundriss. Ein Wandspiegel sorgt fĂŒr optische Erweiterung. An einer Wand umschwingt der Maler mit konzentrischen Kreisen die Schnittpunkte, die das „Spiel der FĂŒllungen“ dynamisiert. Silva lotet die Möglichkeiten fĂŒr das Runde, das Dynamische, das ZufĂ€llige in dem auf eckige Formen und Körper konzentrierten System aus. Und so fragt er nach IndividualitĂ€t, DiversitĂ€t, Abweichung, nach dem Platz fĂŒr das Schiefe, Krumme und ZufĂ€llige im Regelwerk eines Ideals. Der KĂŒnstler bringt sich selbst als echten Menschen mit eigenen Vorstellungen, Augenhöhe und körperlicher Organisation in das Rasterschema ein, der durch die PinselschwĂŒnge wie ein malerisches Nachbild sichtbar bleibt. In diesem Freilegungsprozess der Formpotentiale ist es möglich, auch einen neuen, versöhnlichen Blick auf Le Corbusiers ProportionsverhĂ€ltnisse zu gewinnen. Denn letztlich machen die Inhalte den Raum.

(1) Vgl. Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur (1922) (=Bauwelt Fundamente 2, Originalausgabe 1963, Nachdruck), Braunschweig 1982, S. 23.

(2) Le Corbusier: Der Modulor. Darstellung eines in Architektur und Technik allgemeinen anwendbaren harmonischen Maszes im menschlichen Maszstab [Faksimile-Wiedergabe der 2. Auflage 1956], Stuttgart 1995, S. 77.

(3) Zit. nach: Le Corbusier an Frithjof MĂŒller-Reppen, Paris 18.04.1957 [Übersetzung], in: Le Corbusier und die UnitĂ© d’Habitation, Typ Berlin. Briefwechsel 1955–1958, Berlin 2021, S. 57.

Bilder © Carlos Silva

Ulrike Pennewitz (M.A. phil, MA LIS) ist Kunst- und Informationswissenschaftlerin, lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen und Kuratorin von Ausstellungen zur Klassischen Moderne, Bauhaus-Moderne, West-Berliner Kunstszene, Kunst in der DDR, zeitgenössische Kunst und KĂŒnstlerbĂŒchern sowie Autorin von Werkverzeichnissen und digitalen Ressourcen. www.ulrike-pennewitz.de

Ausstellung Modulor / Carlos Silva 27.04.2023 – 31.08.2023 Mehr Informationen: https://treppe-b.de/

 

 

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