Birgit Szepanski über Archive, Sammlungen und Nachlässe bildender Kunst in Pankow

Welche Kunstwerke der zeitgenössischen Kunst und der Kunst des 20. Jahrhunderts sind in Pankower Archiven, Sammlungen und Nachlässen zu sehen? Welche Künstler*innen prägten das kulturelle Leben in Pankow und lassen sich heute wiederentdecken?

Der zeitgenössische Maler Michel Majerus (1) lebte und arbeitete in Prenzlauer Berg. Bekannt wurde Majerus in den 1990er Jahren durch raumgreifende, malerische Installationen und Gemälde, in denen er Bildzitate aus Kunstgeschichte, Pop-Kultur, Computerspiele und Konsumwelt zu neuen vielschichtigen Bildtableaus zusammenfügte und mit Textfragmenten und Slogans kombinierte. Im Kölnischen Kunstverein installierte der Künstler beispielsweise ein über 400 qm großes Bild »if we are dead, so it is« (2000) als eine raumfüllende Half-Pipe, die dann auch von Skatern befahren wurde. Bei einem Flugzeugunglück 2002 kam Michel Majerus ums Leben. Sein Atelier in Prenzlauer Berg, in einem ruhigen Hinterhof in der Knaackstraße gelegen, wurde 2012 zum Ausstellungsraum ›Michel Majerus Estate‹: Die einmal im Jahr wechselnden Ausstellungen werden von Kuratorinnen und Künstlerinnen konzipiert. Dabei liegt ein Fokus auf Vernetzungen zwischen Majerus’ Werk und anderen Künstlerinnen wie beispielsweise Takashi Murakami, Thomas Bayrle und Laura Owens: Der genreübergreifende Diskurs, den Majerus in seinem Werk generierte, wird so in der Gegenwart weiter geknüpft. Das Michel Majerus Estate ist ein lebendiger Nachlass und ein Forschungslabor für Fragen und Gedanken zur zeitgenössischen Kunst und zu Bilderwelten des 21. Jahrhunderts. Besucherinnen können sich die aktuelle Ausstellung ansehen und mit einem vor Ort anwesendem Guide in einen Dialog kommen über Malerei, Medien und philosophische Themen, denen Michel Majerus insbesondere in seinen Notizen nachging.

Max Skladanowsky präsentiert sein Daumenkino, um 1900
Credit: Museum Pankow, Fotoarchiv

Das ebenfalls in der Nähe des Wasserturms gelegene Museum Pankow bewahrt in seinem Fotoarchiv verschiedene fotografische Materialien vom Anfang des 20. Jahrhundert. Neben einer Sammlung von Bildpostkarten aus den 1920er Jahren – ein Bild- und Kommunikationsmittel, auf dem vor allem aktuelle Ereignisse aus dem Stadtleben publiziert wurden – gibt es im Fotoarchiv eine digitalisierte Sammlung von über einhundert Glasnegativen des Berliner Filmpioniers Max Skladanowsky, der zusammen mit seinem Bruder 1895 den weltweit ersten Film, auf einem Dach in der Schönhauser Allee, drehte. (2) Neben Daumenkinos, Nebelbildern, fotografischen Bildern für Stereoskopie-Apparate und Experimenten mit Überblendungstechniken fotografierte Max Skladanowsky im dokumentarischen Stil den expandierenden Stadtteil Pankow während der 1910er Jahre. Es sind Einblicke in das bürgerliche Leben Pankows und in dessen langsame Urbanisierung: Menschen auf Rummelplätzen, bei feierlichen Umzügen und beim Schlittschuhlaufen, Geschäfts- und Wohnhäuser, Baustellenplakate und winterliche Stadtperipherien zeigen in ihrer Sachlichkeit eine noch wilhelminische Stadtatmosphäre, die durch die kommenden Veränderungen von Industrialisierung und Erstem Weltkrieg noch unbehelligt ist.

Die Kunstsammlung Pankow (3) gibt mit über 4.000 künstlerischen Arbeiten von über 600 Künstlerinnen die divergierende Kunstlandschaft des Bezirkes wider, in der verschiedene soziale, politische Lebensrealitäten der DDR, der Umbruchzeit des Mauerfalles der 1990er Jahre und der Gentrifizierungen nebeneinanderstehen und sich überlagern. Ein Schwerpunkt im Sammlungsbestand, der hauptsächlich aus Zeichnungen, Gouachen und Grafiken auf Papier besteht, bildet Kunst aus der DDR, wie beispielsweise die ›Berliner Schule‹ (4). Diese entzog sich in den 1960er Jahren der Kunst des sozialistischen Realismus und entwickelte eine eigene, an die Moderne Klassik angelehnte Bildsprache. Ausdrucksstark ist dabei beispielsweise die Malerei von Christa Böhme, deren warme, erdige Farbtöne Menschen und Dinge umhüllen. Oder die Druckgrafiken von Dieter Goltzsche, die eine lyrische zeichnerische Leichtigkeit besitzen. Auch Hans Vents ›farbige Blätter‹, die mit weichem, gestischem Duktus Farbatmosphären schaffen, haben eine überraschende Aktualität. Ebenso machen die grafischen Arbeiten der Malerin Charlotte E. Pauly und der zeichnerische Nachlass von Egmont Schaefer (beides Schenkungen) auf die heterogene Kunstsammlung Pankows neugierig, die auch einige der Originale der künstlerischen Währung ›Knochengeld‹(5) beherbergt. 1993 wurde im Prenzlauer Berg von internationalen Künstlerinnen wie beispielsweise Via Lewandowsky, Carsten Nicolai und Andrea Pichl eine künstlerische Währung als Entgegnung zur Einführung der D-Mark in Ostdeutschland in Umlauf gebracht. Am Fotokopierer hergestellte Papiervorlagen wurden individuell gestaltet, mit Zeichnungen versehen und koloriert. Die Idee des ›Knochengeldes‹ geht dabei auf den Philosophen Diogenes zurück, der vorschlug, Geld aus Knochen und nicht aus Metall herzustellen. Der Knochen als eine Metapher für Zerfall und Endlichkeit steht so jeglichem Gewinndenken entgegen.(6)

Archive und Sammlungen sind unvollständige Systeme. Die Galerie Pankow gab 2021 zwar einen Einblick in in Grafiken und Zeichnungen der Künstlerin und Aktivistin Bärbel Bohley (7) aus den 1990er Jahren, aber ihr künstlerischer Nachlass ist bis heute in keiner Kunstsammlung archiviert. In ihren Bildern stellte Bohley mit einer intensiven gestischen Lebendigkeit den menschlichen, meist weiblichen, Körper in seiner Verletzlichkeit dar. Bohleys humanistische Haltung bildete auch in ihrer Kunst einen Schwerpunkt – eine Position, die heute umso aktueller erscheint.

Foto: Bärbel Bohley in ihrem Atelier. Copyright by: Klaus Mehner

Das künstlerische Leben in Pankow ist historisch gesehen sehr lebendig. Käthe Kollwitz, die Namensgeberin für den Kollwitzplatz, die Ostberliner Kunstszene der 1980er Jahre und zahlreiche Künstlerinnen, die seit dem Mauerfall zuzogen, geben dem Bezirk mit seinen Sammlungen ein vielseitiges künstlerisches Profil.

Anmerkungen

(1) Michel Majerus, 1967 in Luxemburg geboren, studierte Kunst an der Staatlichen Akademie der Künste in Stuttgart bei K.R.H. Sonderborg und Joseph Kosuth. Von 1992 bis 2002 lebte er in Berlin-Pankow. Den Nachlass verwaltet die Galerie neugerriemschneider in Berlin. 2022 werden in einer bundesweiten Ausstellungsreihe an fünf Berliner Ausstellungsorten und in 13 Museen Michel Majerus’ Werk reflektiert und diskutiert. Das Michel Majerus Estate bildet in diesem Kollaborationsnetzwerk eine Station.

(2)Ab 1882 experimentierte Max Skladanowsky (1863-1939) mit seinem Bruder Emil mit bewegten Bildern. Der Film auf dem Dach der Schönhauser Allee 146 von 1895 lässt sich als der erste Filme bezeichnen, jedoch veröffentlichten die Brüder diese Bildsequenzen als Daumenkino. Erst einige Monate später, nach der Entwicklung ihres Projektionsapparates ›Bioskop‹, zeigten sie im Varieté des Wintergartens in Berlin-Charlottenburg Kurzfilme mit Unterhaltungskünstler*innen vor Publikum. Andere Filmpioniere wie die Brüder Lumière verfügten über technisch ausgefeiltere Projektoren und wurden in der Filmgeschichte bekannter.

(3) Die Kunstsammlung Pankow wurde 1993 vom Kulturamt Pankow gegründet. Sie besteht schwerpunktmäßig aus einem Kunstkonvolut der 1960er Jahre Ostberlins (aus damaligen Auftragsarbeiten und Ankäufen) und aus Kunstwerken von Künstler*innen, die in Alt-Pankow, Prenzlauer Berg und Weißensee lebten und arbeiteten, die durch die Fusion der Stadtteile 2001 zum Großbezirk Pankow zählen.

(4) Künstler*innen der ›Berliner Schule‹ bezogen sich auf die Klassische Moderne, u. a. auf Maler wie Max Beckmann und Paul Cézanne. Stadt und Landschaft, Menschendarstellungen, Interieurs und Stillleben bildeten oftmals die Motive und wurden mit individuell unterschiedlicher Farbwahl und malerischen Gesten als ein Resonanzgefüge von Empfindungen und einer Innerlichkeit gestaltet.

(5) Das Konzept der Aktion ›Knochengeld‹ wurde maßgeblich von dem Künstler Wolfgang Krause ins Leben gerufen und von der Künstler*innengruppe ›Ioë Bsaffot‹ (Ganoven-Rotwelsch für gefälschte Papiere) realisiert.

(6) Siehe »O2-Galerie Berlin: Knochengeld«, Jürgen Rapp, in: Kunstforum Bd. 149, »Das Schicksal des Geldes«, 2000, S. 172 – 174.

(7) Bärbel Bohley lebte von 1945 bis 2010 in Pankow. Als freischaffende Künstlerin war sie in der DDR starken Repressionen ausgesetzt und gehörte in den 1990er Jahren zur Oppositionsbewegung ›Neues Forum‹. Ihr Sohn Anselm Bohley bewahrt den künstlerischen Nachlass, der bislang unerschlossen ist.

Adressen & Öffnungszeiten, Links

Michel Majerus Estate
Knaackstraße 12, 10405 Berlin
Geöffnet: Samstags von 11.00 bis 18.00 Uhr und nach Vereinbarung
Link Michel Majerus Estate

Museum Pankow, Fotoarchiv
Prenzlauer Allee 227, 10405 Berlin
Termine mit vorheriger Anmeldung
Link Fotoarchiv im Museum Pankow

Kunstsammlung Pankow
Danzigerstraße 101, 10405 Berlin
Termine mit vorheriger Anmeldung
Kunstsammlung Pankow
Galerie Parterre

Hans Vent Stiftung in Pankow
Link: https://hans-vent-stiftung.de/wordpress/

Dr. phil. in art. Birgit Szepanski
ist Künstlerin, Autorin und Dozentin und lebt in Berlin. Nach ihrem Kunststudium an der Kunstakademie Münster und
dem Masterstudium ›Kunst im Kontext‹ an der Universität der Künste Berlin promovierte sie an der Hochschule für
bildende Künste Hamburg zum Thema »Erzählte Stadt« (veröffentlicht im transcript Verlag). Birgit Szepanski hält
Gastvorlesungen und Vorträge zu ihren Forschungsthemen Erzählen in der bildenden Kunst und Stadtwahrnehmung.
Ihre künstlerischen Arbeiten, die sich mit Erinnern und Erzählen im dem urbanen Raum auseinandersetzen, zeigt sie
regelmäßig in Ausstellungen.
www.birgitszepanski.de

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