Marodes Mauerwerk, das auf das Pflaster fällt, oder der strenge Geruch nach Kohle – all das gibt es im Prenzlauer Berg längst nicht mehr. Heute sind die Fassaden aufgeputzt, prägen Coffeeshops, Lohas und teure Klamottenläden das Bild. Die so legendären wie eigensinnigen Kneipen der Wendezeit wie den Torpedokäfer und andere Orte der Unangepasstheit muss die Flaneur:in lange suchen. Und doch, es gibt sie noch, denn einige Besonderheiten blieben. So sorgt der Bezirk mit der neben Kreuzberg und Neukölln größten Dichte an Künstler:innen immer wieder für Aufsehen.
Ein Schlaglicht auf die Künstler:innen, die schon vor der Wende im Bezirk lebten und arbeiten, wirft die kommunale Galerie Parterre in der Danziger Straße im denkmalgeschützen Gebäude der ehemaligen städtischen Gasanstalt. Die Programmgalerie hat sich um sie besonders verdient gemacht, eine große Anzahl der Öffentlichkeit vorgestellt und in ihre erstklassige Sammlung zur Ostdeutschen Kunst aufgenommen, stetig wachsend durch neue Schenkungen und Nachlässe, die ihr zugeführt wurden und werden. So etwa widmete sie 2019 dem jung verstorbenen Maler Michael Diller (1950-1993) und seinem originellen, hintergründigen Werk eine Einzelausstellung. Sein Atelier in der Pappelallee 85, in dem dem Hörensagen nach schon der Maler Karl Schmidt-Rotluff (1884-1976) gewohnt haben soll, wurde in der Vorwendezeit zum Szenetreff für Künstler:innen, Herumtreiber und Träumer; für jeden geöffnet, der vorbei kam, um an Lesungen, Ausstellungen oder Gesprächen teilzuhaben. Spuren dieser trotz Bespitzelung aufrecht erhaltenen Freiheit in urbaner Atmosphäre lassen sich auch heute im Prenzlauer Berg noch wahrnehmen.
Im Prozess der Historisierung der Wende ist nebenan und gegenüber inzwischen viel Neues an Kunst und zeitgenössischen Positionen im Bezirk entstanden. Dafür gibt es bislang zu wenig Aufmerksamkeit. Viele junge Künstler:innen wanderten zu, über die traditionsreiche Kunsthochschule Weißensee oder andere Wege und Umwege. Sie wurden diverser und internationaler. Heute gehört ihre Anwesenheit zu den Magneten für Touristen und junge Auswanderer aus aller Welt, Kreative und Unternehmungen aller Art. Abseits des Mainstreams und doch mittendrin, in den Nischen der Künstlerförderung, in Ateliergemeinschaften wie Milchhof e.V., oder Altbauten mit hochbetagten Mietverträgen, arbeiten sie in der Nachbarschaft, und haben sich festgekrallt wie unvergängliches vitales Moos, aller Gentrifizierung und Verdrängung zum Trotz.
Gerade Pankow hat die Kunst der Generationen nach der Wende erst noch zu entdecken. In der Stadt, die so viel zeitgenössische Kunst produziert, aber bislang wenige Ausstellungshallen dafür hat und vornehmlich exklusiv präsentiert, gäbe es unendlich viele Räume mit Kunst zu bestücken. Ich denke da nicht nur an die bezirklichen Institutionen, sondern auch zum Beispiel an die vielen internationalen Gäste im Transit, die bevorzugt am Prenzlauer Berg wohnen und sich nicht mit kahlen Wänden begnügen wollen.
Eine lokale Artothek der in Pankow arbeitenden Künstler:innen könnte dies ändern. Doch wie zeitgemäß ist das Konzept Artothek? Zumal in Zeiten, in denen der Berliner Senat etwa die riesige Sammlung (über 14.000 Werke) der sozialen Künstlerförderung, die seit 1953 besteht und durch Ankauf von Werken mehrere Generationen von Künstler:innen unterstützte, am liebsten loswerden möchte. Man plant sie aufzugeben, zu teuer ist die Lagerhaltung in Mariendorf im Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Sie beherbergt unter ihren Top-20 auch Frühwerke von Cornelia Schleime und Georg Baselitz. Es gibt in Berlin darüber hinaus lange schon eine stattliche Anzahl sehr guter Angebote: die Graphothek in Reinickendorf, die älteste Artothek Deutschlands, die Artothek des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.) oder auch die der Landesbibliothek, um nur einige zu nennen. Sie bieten einfachen Zugang: Man bedenke, dass es hier jeder und jedem möglich ist, ein Original von Elvira Bach, Marcus Lüpertz oder A.R. Penck für einige wenige Euro auszuleihen, und, wenn auch nur vorübergehend, zu „besitzen“. Nicht allein für junge Zielgruppen mit knapper Kasse ein einmalig großzügiges Angebot.
„Artotheken sind das Exotischste, das man sich im deutschen Kulturbetrieb vorstellen kann. Kaum einer kennt sie, und wer sie kennen lernt, glaubt sich in einem kulturpolitischen Traum…“ schreibt Astrid Bardenheuer, Leiterin der artothek – Raum für junge Kunst in Köln und Vorsitzende des Artothekenverbands Deutschland e.V. Es gibt heute rund 120 Artotheken in Deutschland, doch arbeiten sie meist „unter dem Radar der kulturinteressierten Öffentlichkeit“. Entstanden ist die „phantastische Idee einer Kunstrezeption mit Breitenwirkung“ in den 1968er Jahren mit den Bestrebungen zur Demokratisierung der kulturellen Bildung und löste geradezu einen Artotheken-Boom aus. Die Entwicklungsgeschichte der Artotheken begann streng genommen bereits vor mehr als 100 Jahren. 1906 entstand erstmals die Idee eines Kunstverleihs aufgrund schlechter Absatzmöglichkeiten von Künstler:innen und geringer Kaufkraft, beschreibt die Autorin Ann-Marie Wörner. Die Bemühungen fruchteten zunächst jedoch nicht, bis 1921 der Wirtschaftliche Verband bildender Künstler 1925 eine neue Organisation als Ausleihinstitut gründete, die erfolgreicher war, aber auf soviel Widerstand stieß, dass sie bereits 1927 wieder aufgelöst wurde.
1968 wurde auf Initiative des Volksbildungsstadtrats Horst Dietze (1927-2015) und des Künstlers Siegfried Kühl (1929 – 2015) die Graphothek Berlin in Reinickendorf gegründet. Sie orientierte sich an der Print Collection in Greenwich/London, die heute nicht mehr existiert. Die erste Artothek Deutschlands findet sich heute im Fontane-Haus der Stadtteilbibliothek Märkisches Viertel und umfasst allein einen Bestand von 6000 Werken, von der Klassischen Moderne – Expressionismus, Kubismus – über Pop-Art, Informel bis hin zu zeitgenössischen Positionen. Unter dem Motto „Kunst für alle“ und „Kostenlos für alle“ der sozialdemokratischen Bildungspolitik in den 1970er Jahren stand die Gründung der Artothek als Teil des Neuen Berliner Kunstvereins in Westberlin. Sie wurde zu einem Ort der „zeitgenössischen Kunst- und Diskursproduktion“, an dem jährlich bis zu acht Ausstellungen sowie zusätzliche Veranstaltungen, Performances, Screenings und Konzerte stattfinden. Mit ihrer artothek mobil wurde es ab 1979 dann sogar möglich, dass Kunstwerke direkt zu ihren Zielgruppen kamen, in Schulen, Betriebe und Bildungseinrichtungen.
Auch mit dem Homeoffice der Zukunft eröffnet sich nun ein ganz neues Experimentierfeld für die Neuerfindung der Artothek und könnte ihr Revival beflügeln. Keine Büchertapeten in Meterware als Hintergrund, um Status zu demonstrieren. Wer Zoom-Sitzungen abhält, Videotelefonate führen muss und viel Zeit im Homeoffice verbringt, könnte die pappige Bücherwand durch Kunst ersetzen: Ein originäres Werk, das Narrativ oder Blickfang mit kommunikativen Anknüpfungspunkten wäre und zugleich für eine abwechslungsreiche Innenausstattung sorgt. Das Homeoffice ist aber zugleich auch Chance für einen Relaunch der Artothek als einer kulturellen und sozialen Errungenschaft, die Kunst in den Büroalltag unterschiedlicher Akteure und Menschen bringt. Und die Artothek, die Vermittlung, niedrigschwelligen Kunstzugang und Verkaufsförderung von Künstler:innen stets ermöglicht hat, hätte gerade jetzt eine Kampagne zur Wiederverbreitung verdient. Im Retrotrend wurde sie übergangen, und statt dem Recycling einer wirklich guten Idee, wird Kunst als Deco zusehends von einigen Start-ups verramscht. Dabei kann sich die Stadt mit ihrem Bestand an Artotheken schmücken wie keine andere mondäne Weltmetropole. Schade, dass sie sich so selten ihrer rühmt.
Selbst Berliner:innen haben häufig noch nie von Artotheken gehört. Gibt es zu wenig Werbung in den Medien? Haben die Betreiber:innen und Bibliotheken zu knappe Ressourcen und kein Personal für Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit, um auch ein jüngeres Publikum anzusprechen? Wie sonst erklärt sich, dass ein so fantastisches Angebot, das es schon so lange gibt, außer von Kennerinnen und Kennern kaum wahrgenommen wird. In der Pandemiezeit, in der wir die Schließung von Museen und Galerien notgedrungen akzeptiert haben, erlaubten Berlins Artotheken fast ununterbrochenen Kunstgenuss und Augentrost.
Eine Gruppe Künstler:innen aus der Ateliergemeinschaft Milchhof e.V. und artspring berlin nehmen das diesjährige Festival zum Anlass, um das Projekt einer virtuellen und crossmedialen Artothek im Bezirk Pankow vorzustellen. Es möchte dazu anregen, neue digitale Formate auszuprobieren, und eine Brücke schlagen zwischen ostdeutscher Kunst in ihren lokalgeschichtlichen Bezügen bis hin zu den diversen im Bezirk vertretenen jüngeren Kunstströmungen und Positionen. Die Artothek soll nicht nur eine Ausleihstelle sein, vielmehr sollen Künstler:innen und Hintergründe der lebendigen Kunstproduktion vor Ort auf der Website sichtbarer, Entwicklungen, Porträts und jüngste Zeitgeschichte abseits des Mainstreams archiviert und dokumentiert werden.
Galerie Parterre und artspring berlin laden ein zu einem Thementag „ Kunst sammeln“ am 8.6.21 um 19:30 Uhr.
Zitate: Kulturelle Bildung. einmal KUNST bitte! Mit Artotheken. Hg: Astrid Bardenheuer. Stadt Köln, artothek – Raum für junge Kunst. 2018